Polyvagaltheorie – Wie unser Nervensystem Heilung möglich macht
In der therapeutischen Arbeit geht es oft darum, wie wir Menschen wieder in ein inneres Gleichgewicht finden, körperlich wie seelisch und geistig. Viele Klienten kommen mit Stress, Ängsten, Erschöpfung und innerer Unruhe. Oder chronischen körperlichen Beschwerden. Doch warum halten diese Zustände so lange an? Warum „funktionieren“ manche Methoden besser als andere?
Die sogenannte Polyvagaltheorie wurde entwickelt vom amerikanischen Neurowissenschaftler Dr. Stephen Porges. Sie bietet eine spannende und tiefgreifende Antwort auf diese Fragen. Und sie erklärt, wie unser autonomes Nervensystem – also der Teil unseres Körpers, der automatisch und unbewusst funktioniert – auf Sicherheit oder Gefahr reagiert. Ebenso zeigt sie Wege, wie wir über dieses Nervensystem in der Therapie Heilung und Regulation anstoßen können.
Polyvagaltheorie – Nutzen in der Praxis
Unser Nervensystem hat zwei große „Schaltkreise“, die automatisch regeln, wie wir uns fühlen und verhalten:
Sympathisches Nervensystem: Der „Kampf- oder Flucht“-Modus. Wenn wir in Gefahr sind, bereitet dieses System uns auf schnelles Handeln vor. Der Puls steigt, die Muskeln spannen sich an, wir werden wachsam und bereit, zu kämpfen oder zu fliehen.
Parasympathisches Nervensystem: Der „Ruhe und Verdauung“-Modus. Wenn wir sicher sind, sorgt dieses System für Entspannung, Erholung und Heilung.
Die Polyvagaltheorie erweitert dieses einfache Bild um einen wichtigen dritten Bereich: den ventralen Vagusnerv, der für soziale Verbindung, Sicherheit und Regulation zuständig ist.
Dr. Porges fand heraus, dass unser Nervensystem nicht nur auf körperliche Gefahr reagiert, sondern auch auf soziale Signale. Einen Gesichtsausdruck, einen Tonfall, einen Blick. Wenn wir uns sicher und verbunden fühlen, aktiviert sich der ventrale Vagus. Wir entspannen uns, atmen ruhiger, fühlen uns offen und verbunden mit anderen. Dieser Zustand ist die Grundlage für Heilung, Lernen und kreative Prozesse.
Die drei Zustände des Nervensystems
Sicherheit und Verbindung (ventraler Vagus)
Wir fühlen uns sicher, offen, interessiert und mit anderen verbunden. Körperlich sind wir im Gleichgewicht: Herzschlag, Atmung, Verdauung. Alles läuft harmonisch. In der Therapie ist dies der Zustand, in dem echte Veränderung geschehen kann.
Kampf oder Flucht (sympathischer Zustand)
Wir sind angespannt, reizbar, nervös oder ängstlich. Der Körper ist auf Gefahr eingestellt. Viele Klienten erleben diesen Zustand als Dauerstress, Schlafstörungen oder Angstsymptome.
Erstarrung oder Rückzug (dorsaler Vagus)
Wenn weder Kampf noch Flucht möglich sind, schaltet das Nervensystem auf „Abschalten“. Man fühlt sich leer, müde, kraftlos oder sogar „wie tot“. Dieser Zustand ist typisch bei traumatischen Erfahrungen.
Was bedeutet das für die Therapie?
Die Polyvagaltheorie hilft Therapeuten zu verstehen, in welchem Zustand sich ein Klient gerade befindet. Und wie er sanft in Richtung Sicherheit begleitet werden kann. Denn nur im Zustand von Sicherheit und Verbindung ist echte Heilung möglich.
Für den Klienten bedeutet das:
Man versteht besser, warum man sich so fühlt, wie man sich fühlt. Ohne sich dafür schämen oder „funktionieren“ müssen.
Man lernt, die Signale des eigenen Körpers zu deuten. Wo spüre ich Anspannung? Wo Rückzug?
Es wird möglich, eigene Muster zu erkennen. Z.B. wann man sich zurückzieht oder überreagiert. Und man lernt, freundlich mit sich umzugehen.
Man entwickelt Werkzeuge zur Selbstregulation: Atemtechniken, Bewegung, Stimmarbeit, bewusste Pausen. Je nachdem, was individuell hilft.
Für den Therapeuten bedeutet das:
Es entsteht ein feines Gespür für den Zustand des Klienten, auch nonverbal.
Die therapeutische Beziehung wird sicherer und tragender, weil man weiß, wie man „Nervensicherheit“ aufbaut.
Es können gezielt körperorientierte Methoden eingesetzt werden, um den Vagusnerv zu aktivieren. Durch Atemarbeit, sanfte Bewegung, Klang oder Hypnose.
Es geht weniger um „Reden“ und mehr um Erleben und Spüren, was gerade im Nervensystem geschieht.
Wie arbeite ich in meiner Praxis mit der Polyvagaltheorie?
In meiner therapeutischen Arbeit, ob in Hypnose, mit Musik, Reiki oder dem Tuning Board, fließen die Erkenntnisse der Polyvagaltheorie immer mit ein. Denn sie bieten einen Schlüssel dafür, wo ein Mensch gerade steht, und was er gerade braucht.
Beispiele:
Hypnose kann sehr wirksam sein, wenn der Klient sich bereits etwas sicher fühlt. Wenn nicht, unterstütze ich den Einstieg durch Atemübungen, sanfte Musik oder Körperwahrnehmung, damit das Nervensystem aus dem Stressmodus zurückschalten kann. Siehe auch meinen Beitrag Hypnose – wozu ist das gut? Lesen Sie hier …
Reiki hilft vielen Menschen, einen Zustand tiefer Entspannung zu erreichen. Also den ventralen Vagus zu aktivieren. Oft berichten Klienten, dass sie sich „zum ersten Mal seit langem wieder sicher im Körper“ fühlen. Was ist Reiki?
Beim Tuning Board (ein schwingendes Brett zur Körperwahrnehmung) geht es darum, über Bewegungsimpulse wieder in Kontakt mit dem eigenen Gleichgewicht und der Umgebung zu kommen – auch das reguliert den Vagusnerv. Bei Interesse: Tuning board – was ist das?
Ich achte in jeder Sitzung darauf, die „Sprache des Nervensystems“ zu verstehen – also fein zu spüren. Ist der Klient noch da, ansprechbar, offen? Oder zieht er sich zurück, friert ein, wird überflutet? So kann ich gezielt den Rahmen anpassen und kleine Schritte in Richtung Sicherheit und Verbindung ermöglichen.
Warum das Verständnis des Nervensystems so wichtig ist
Viele psychische oder körperliche Beschwerden sind nicht „nur im Kopf“, sondern Ausdruck eines dauerhaft überlasteten Nervensystems. Das Nervensystem ist wie ein inneres Alarmsystem. Wenn es ständig „Gefahr“ meldet, fällt es uns schwer, zu entspannen, zu vertrauen, klar zu denken oder gesund zu bleiben.
Die gute Nachricht: Unser Nervensystem ist formbar. Wir können lernen, es zu regulieren – nicht durch Zwang, sondern durch bewusste Erfahrung von Sicherheit.
Das ist der Kern der Polyvagaltheorie: Sicherheit heilt. Nicht nur kognitiv verstanden, sondern körperlich spürbar. Als Therapeutin begleite ich diesen Prozess mit viel Achtsamkeit, Mitgefühl und den passenden Methoden – individuell abgestimmt auf dich und deinen Weg.
Fazit: Ein neuer Blick auf Heilung
Die Polyvagaltheorie verändert, wie wir Therapie verstehen. Sie hilft, Symptome nicht mehr als „Fehler“ zu sehen, sondern als Schutzreaktionen eines klugen Nervensystems. Und sie zeigt konkrete Wege, wie wir über Körper, Atem, Stimme und Beziehung zurück in die Selbstregulation finden.
Für dich als Klient bedeutet das: Du musst nicht „funktionieren“. Du darfst lernen, dich selbst neu zu spüren – in einem sicheren Rahmen, in deinem Tempo. Therapie wird so zu einem Weg zurück in Verbindung – mit dir selbst und mit dem Leben.
Falls du Interesse an einem kostenfreien Erstgespräch bei mir hast, kannst du mich gern ansprechen unter Kontakt oder telefonisch unter 034296 40201. Ich freue mich auf unser Gespräch.